DAMALS: 

Es war Sommer. Die Hitze breitete sich in alle Richtungen aus und kroch in jede Ecke unseres trockenen Raumes. Sirenen peitschten immer wieder in die flimmernde Stille, zerschnitten die sirrende Luft und schnürten einem die Kehle vor Angst zu. Es war Krieg.

Wir durften nicht in die Luftschutzkeller, mussten oben bleiben, denn wir hatten kriegswichtige Dinge zu verwalten, die keinen Aufschub verkraften konnten. Unsere Fenster waren geschlossen und besonders isoliert, damit wir vor Lärm und gefährlichen Granatsplittern wenigstens notdürftig geschützt waren. Die Luft war abgestanden und staubig. In der Sonne konnte man die Staubteilchen einen irren Tanz aufführen sehen. An ihnen brach sich das Sonnenlicht und erzeugte bunte Muster.

Vermischt mit dem Schweiss aus Angst und Arbeit brannte sich der Schmutz in die Haut und die versengten, übermüdeten Augen. Mein Blick wanderte nach rechts zu meinem Kameraden. Offenbar hatte er sich schon aufgegeben, denn sein Kopf lag abgewendet auf seinen durchschwitzten Armen. Die dunkelblaue Tinte eines Stempelkissens wanderte über seine jagdgrüne Schreibtischauflage und sog sich aufwärts in seine gestreiften Hemdsärmel und den Kragen. Dass er noch lebte, erkannte man nur daran, dass sich sein Rumpf fast unmerklich leicht auf und ab bewegte und die obersten Blätter auf dem Papierstapel rechts von ihm (es waren die rosa Durchschläge für das Archiv) ein wenig durch den Lufthauch seines flachen Atems zum Flattern gebracht wurden.

Die Sirenen heulten gerade wieder auf. Wer sich noch retten konnte, machte einen Satz über seinen Schreibtisch, um sich zwischen Schreibtisch und Innenwand vor dem Gröbsten zu schützen. Von weitem hörte man schon dumpfe Einschläge, eigentlich spürte man sie mehr. Putz bröckelte von der Decke. Nachdem ich mich ebenfalls über meinen Schreibtisch hechtete und mich in den von ihm erzeugten dunklen Schatten flüchtete, wischte ich mir den kalten Schweiss mit dem Ärmelschoner von der Stirn und versuchte mein Gehirn leer zu machen. In dem Moment kam Kameradin Helga herein.

Es machte ihr sichtlich Mühe, die Contenance zu bewahren und sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte Ruhe ausstrahlen, um die Panik unter uns verlorenen Seelen nicht noch weiter zu schüren. Ihr blondgelocktes, schulterlanges Haar umschmeichelte ihr ovales, fein gezeichnetes Gesicht. Sie war ein Engel. Ihr khakifarbenes Kostüm bestand aus einem Faltenrock "handbreit über Knie" und einer sehr straffen Bluse, welche ihre prallen Brüste besonders hervortreten liess. Auf der rechten Seite der Bluse war eine Tasche aufgenäht, auf der auch ihr Name eingestickt war. Genau auf Nippelhöhe waren links und rechts je eine Schelle angebracht. Die Bluse war wohl von Jinglers.

Das klingeln dieser kleinen Glöckchen hatten wir diesmal aufgrund des Luftalarms nicht hören können. Unter normalen Umständen hörte man aber die Schellen zuerst, noch bevor Helga im Türrahmen auftauchte, und dieser Klang löste zu besseren Zeiten Wohlbefinden aus. Denn Helga brachte dann meist in einer Thermoskanne frischen Kaffee herein. Auch diesmal hatte sie die Thermoskanne dabei.

Als sie sich mir näherte und zu mir um den Schreibtisch herumging, hinter dem ich mich immer noch ängstlich zusammenkauerte (die Sirenen hatten gerade erst aufgehört), irritierte mich das Geräusch der Schellen auf einmal. Kaum war sie bei mir angekommen, packte ich sie und stoppte das Klingeln, indem ich mein Gesicht in ihren Brüsten vergrub. Auf diese Weise wollte ich meine Kameraden vor dem in dieser Stille gespenstisch anmutenden Klingeln bewahren und den Zusammenhalt der Truppe sichern. Ausserdem wollte ich Helga etwas von der Ruhe, die sie ausstrahlte, während sie innerlich wohl vor Furcht fast verging, zurückgeben. Keiner meiner Kameraden brachte es fertig, sich so zusammenzureissen wie Helga. Sie war ein Vorbild für uns alle. Während meine brennenden Augen sich also in der Dunkelheit ihrer weiblichen Brust etwas erholen konnten, wurde mir bewusst, dass ich auch aus Helgas Achselhöhlen Angstschweiss roch. Ich nahm daher meinen Kopf zurück und zerrte ihren ganzen Körper an mich, streichelte sie ein wenig. Mit staksigen Worten versuchte ich sie zu trösten. Ich flüsterte ihr Sachen wie "Wir müssen da durch. Bald ist es überstanden. Wir schaffen das." zu und sah ihr dabei in die Augen. Sie wirkten jetzt etwas ruhiger.

Helga befreite sich aus meiner Umklammerung, stand wieder auf, strich sich die Falten aus dem Kostüm und fuhr in ihrer Routine fort, jedem von uns Kaffee einzuschenken. Als sie aus dem Zimmer ging, bemerkte ich noch, wie ein banger Blick von ihr die Fensterreihen streifte.

Wir waren wieder auf uns allein gestellt. Für einige Stunden arbeiteten wir an unseren möglicherweise kriegsentscheidenden Verwaltungsprojekten weiter. Immer wieder unterbrachen uns die Sirenen und zwangen uns, hinter unseren Schreibtischen Zuflucht zu suchen. Hermann, der Kamerad zu meiner Linken, hatte sich beim letzten Alarm in der Hitze des Gefechts und aus Schreck in den Daumen getackert. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und betrachtete seine blutende Wunde, versuchte mit dem Mund Giftstoffe aus ihr herauszusaugen. Papier, das heute morgen noch frisch und weiss in seinem rechten Ablagekorb lag, war nun rotgefärbt. das Dokument in der Mitte seines Schreibtisches war regelrecht durchtränkt vom Blut, zumindest im Bereich der Datumsangabe.

Überhaupt war Papier ein nicht zu unterschätzendes Gefahrengut. Kamerad Erwin von der Schreibtisch-Frontlinie hatte sich gestern erst eine tiefe Schnittwunde durch unsachgemäße Handhabung bei der Herausgabe eines eiligen Papiers an den Vorgesetzten zugezogen. Diese Wunde, die ihn genau im Übergang von Zeigefinger zu Daumen kalt erwischte, neigte dazu, während der Ausübung seines kriegswichtigen Handwerks immer wieder aufzureissen.

Der Abend kündigte sich an. Die Sonne zog Richtung Horizont und hinterliess lange Schatten von gegenüberliegenden Gebäuden, die nun in unseren Raum hereinfielen und Teile des Bodens und der Schreibtische bedeckten. Die Luft blieb nach wie vor trocken und staubig, war jedoch nun ein paar Grad kühler. Das Neonlicht ging klackernd automatisch an und vermischte sich mit dem Restlicht der Sonne zu einer bizarren emulsionsartigen Masse, die den Raum ölig durchwanderte.

Unsere Kehlen waren ausgetrocknet und fühlten sich an wie ausgebleichtes, aufgerauhtes Holz. Aufgrund Lebensmittelknappheit und Rationierungsmassnahmen konnten wir diesem Gefühl wenig entgegensetzen. In meiner Schreibtischschublade lag ein Stück knochentrockenes Brot und ein größeres Stück geräucherter Schinken, das an Zähigkeit kaum zu überbieten war. An die versalzene ungarische Salami, die sich dort ebenfalls noch befand, wollte ich in dem Augenblick gar nicht denken, denn dann schnürte es mir die Kehle nur noch mehr zu.

Ein leises Klingeln war wieder zu vernehmen, und kurz darauf kam Helga herein. Sie hatte es irgendwie geschafft, Himbeersirup hereinzuschmuggeln, und hatte diesen nun mit kaltem Wasser aus der Regentonne des Innenhofes, welche immer im Schatten stand, und mit Zucker zu einem köstlichen Getränk vermischt. An normales Wasser kamen wir längst nicht mehr heran, die Wasserhähne im Haus brachten nur noch eine braune Brühe hervor. Kamerad Paul gab neulich seinem Verlangen nach und trank davon, musste dies aber mit seinem Leben bezahlen.

Ich versuchte mich locker auf der Schreibtischkante zu positionieren, um etwas Eindruck bei Helga zu machen. In erster Linie allerdings versuchte ich sie ihres Saftes wegen zuerst zu mir zu locken, und schaukelte daher leicht mit meinem rechten Bein. Aus dem Augenwinkel hatte sie die Bewegung erkannt und drehte sich unbewusst wie ferngesteuert in meine Richtung.

Das köstliche Naß des schäumenden Himbeersaftes erschloss sich meiner Mundhöhle und rann kühlend die Speiseröhre hinab, um dann im Magen ein entspannendes Gefühl auszulösen. Ich labte mich schlürfend über 5 Minuten an einem Glas davon. Ohne dass die anderen es hören konnten, raunte ich dann Helga zu, wie gut hierzu jetzt ein goldbraun gebratenes Omelette passen würde. Wenigstens an Eier müsste man in diesen Tagen doch irgendwie rankommen. Helga schien zu verstehen, denn sie drehte mir ihr Gesicht zu und nickte ganz leicht. Dabei blitzten ihre Augen schelmisch auf. Sie sammelte die leeren Gläser auf einem Tablett ein, nahm sich einen kleinen Notizzettel und kritzelte mit belangloser Miene etwas darauf. Der Zettel verschwand mittels einer unauffälligen Bewegung in ihrer Rocktasche. Ehe sie den Raum verließ, nahm sie mit beiden Händen meine linke Hand und drückte sie kurz.

Ich sass noch wie erstarrt vielleicht zwei Minuten auf der Schreibtischkante. Vor meinem geistigen Auge vermischte sich der süße Geschmack des mit Zucker vermengten Himbeersaftes mit dem warmen Druck ihrer Hände zu einem einzigartigen Gesamtbild. Kaum merkte ich, dass ich in eine Art Trance gefallen war und die Kameraden mich schon scheel ansahen, schüttelte ich mich wach und begab mich wieder hinter meinen Schreibtisch.

Dort erst bemerkte ich den zusammengefalteten Zettel in meiner linken Hand. Ohne mich zu verraten öffnete ich den Zettel unterhalb der Schreibtischplatte und las darauf "Nach Arbeitsende beim Hausmeister. Helga.". Ich verstand nicht ganz, mein Herz wurde jedoch warm vor lauter Vorfreude und Spannung.

Ich arbeitete noch einige Dokumente durch, bis es dunkel geworden war und alle anderen Kameraden gegangen waren. Dann stahl ich mich heimlich und leise durch die langen dunklen Flure (nach Arbeitsende wurde von "eingeschränkter Beleuchtung" auf "Verdunkelung" umgestellt, ordnungsgemäß nach den Richtlinien des Luftschutzbundes). Schliesslich kam ich im Innenhof heraus, denn der Hausmeister hatte eine Wohnung im Souterrain, aus der er per Treppe Zugang zum Innenhof hatte. Dort stand auch das Regenfass. Ich formte mit meinen Händen eine Schale, um mich eines kühlen Schlucks Regenwassers zu bedienen, bevor ich die Treppe herunterging und an die Tür klopfte. Schon auf der Treppe erschloss sich mir der Grund meiner Vorfreude: Es roch herrlich nach frisch gebratenem Omelette. Der Hausmeister machte auf und bedeutete mir freundlich zunickend, doch hereinzukommen. In der Essstube sass bereits Helga. Der Hausmeister lebte alleine; seine Frau hatte ihn zusammen mit den Kindern verlassen, um vor dem Kriegsgeschehen in sicherere Gefilde zu fliehen.

Er zog hastig die Tür hinter mir zu, damit das verräterische Licht nicht zu lange nach aussen drang. Sogleich frug ich ihn, wie es ihm möglich war, an Eier heranzukommen. Da führte er mich in einen kleinen niedrigen Nebenraum, den er tiergerecht umgebaut hatte. In diesem befanden sich, teilweise in kleinen Ställen, teils auch offen herumlaufend, Hühner und Hasen. Auf einem Regal weiter oben waren neben Tierfuttersäcken auch Äpfel gelagert, ein paar verschlossene metallene Milchkannen standen dort, und ganz in der Ecke standen Einmachgläser, in denen ich den Himbeersirup vermutete, den Helga uns heute ins Büro geschmuggelt hatte.

"Komm, lass uns zusammen das Omelette essen, sonst wird es noch kalt", winkte mich der Hausmeister schliesslich in die Essstube zurück, welche gleichzeitig auch Küche war. Ich setzte mich und ass zusammen mit Helga und dem Hausmeister das leckerste Omelette meines Lebens. Diesen Abend werde ich nie vergessen, denn er schien den Wendepunkt des Krieges zu markieren. Die Kampfhandlungen verlagerten sich wenige Tage später fort von uns, und bald schon war der Krieg zu Ende.

Den Krieg hatten wir zwar dann verloren, aber wenn ich so an meine Kameraden von damals zurückdenke, dann wird mir eines noch heute immer wieder klar: Wir hatten wenigstens Eier. Richtige Eier.


Written by Scythoior (c)2005


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